Großmutter Weide

Ich habe nie infrage gestellt, warum Pocahontas mit einem Baum spricht – geschweige denn, warum ihr diese alte Weide Ratschläge für das Leben gibt. Das verzerrte Gesicht in der knochigen Rinde wirkte so verdammt menschlich. Wer sollte auch besser erklären können, wie man Entscheidungen trifft, als solch ein altes Gehölz, das Jahrhunderte überdauert und miterlebt?

Im letzten Jahr hatte ich ein kleines Erlebniss, dass mich auf gewisse Weise faszinierte und zugleich abschreckte. Ich fuhr mit dem Auto in das schottische Örtchen Fraserburgh. In der Stadt in Aberdeenshire wurde Ende des 18. Jahrhunderts der erste Leuchtturm des Landes gebaut. Zunächst nahm ich die Umgebung nicht sonderlich anders war. Ähnlich wie bei vielen Hafenorten, waren die Gebäude hier recht flach gehalten und hatten den typisch britisch maritimen Flair. Doch spätestens als ich das Auto abgestellt hatte, machte sich ein bedrückendes Gefühl in mir breit. Trotzdessen ich mich am offenen Meer befand und Fraserburgh von weiten Feldern eingerahmt wird, fühlte ich mich eingeengt. Irgendetwas ließ alles um mich herum furchtbar karg erscheinen. Dann fiel es mir auf: Es gab weit und breit keine größeren Bäume. Eine einzige Tanne konnte ich irgendwann ausfindig machen. Doch ansonsten bestand die Stadt nur aus Stein, Gras und dem ein oder anderen Busch. Sicherlich erwartet man in Küstennähe keine größeren Ansammlungen hochgewachsener Stämme. Doch selbst in der schottischen Einöde habe ich keinen bewohnten Ort erlebt, der so baumfrei war.

Dieser Moment machte mir bewusst, wie wichtig mir die treuen, alten Pflanzen sind. Zwar ist Fraserburgh eine Jahrhunderte alte Hafenstadt, die einst sogar eine Universität besaß. Doch mir schien, als würde etwas an ihrer Geschichte fehlen, da es keine Bäume gab, die sie flüsterten. Das mag schmalztriefend klingen. Aber kennt ihr das, wenn man in einem Wald unterwegs ist, der schon lange Zeit vor euch existierte und der euch – zumindest für den Augenblick – das Gefühl gibt auch Jahre nach euch noch da zu sein? Für mich ist das Sicherheit. Eine sichere Gewissheit, dass Beständigkeit auch in den wildesten Zeiten existiert, dass manche Dinge sich nicht verändern, auch wenn die Erde sich noch so schnell dreht. Die Bäume können den Naturgewalten und den Jahren trotzen. Dem Menschen sind sie ausgeliefert. Wenn er sie nicht pflanzt, existieren sie in Orten wie Fraserburgh nicht. Wenn er sie zu Hauf vernichtet, existieren sie vielleicht auch an jenen Plätzen nicht mehr, wo sie ohne die Menschheit prächtig altern konnten.

Vielleicht hatte ich gerade deshalb nie Angst vor Großmutter Weide, weil sie Pocahontas das Gefühl gab, in dieser wirren Zeit, in der sie lebte, ein kleines Stückchen Sicherheit zu haben. Ich selbst kann nicht wirklich verhindern, dass Urgehölze und zahllose Goßmutter Weiden verschwinden. Aber ich kann für Spösslinge sorgen, die wie Groot im Töpfchen reifen und den ein oder anderen viele Jahre später beschützen. Ich liebe es Bäume in meiner Umgebung zu pflanzen und darunter kleine Botschaften zu verstecken, die hoffentlich nie jemand findet. Da ich aber auch den Plätzen der Erde kleine Naturwunder schenken möchte, die es am nötigsten haben, habe ich die Gunst der Stunde genutzt.

*nikinclothing.com (unbezhalte Werbung)

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s