Selbstportrait

Ich schaue auf das Bild meiner Mutter, dass auf dem kleinen Beistelltisch direkt neben meinem Sofa steht. Ich hatte diesen verträumt leeren Blick irgendwann an mir selbst entdeckt. Dieses eine Foto verband uns mehr als das gemeinsame Leben, dass wir beide nur ganz kurz hatten. Als mein Blick heute auf dieses Bild fällt, lächle ich. Mehr als zwanzig Jahre habe ich versucht auf ihren Pfaden zu wandeln, sie kennenzulernen. Ich versuchte Wege zu gehen, die sie in meiner Situation vielleicht auch gegangen wäre. Ich hatte immer wieder den Drang, sie stolz zu machen. So konnte ich mir vorstellen, wie sie reagierte, als ich die Abschlussrede in der Schule hielt, als ich versuchte in ihre Lehrerfußstapfen zu treten, es nicht schaffte und mich dennoch nicht unterkriegen lies. Sie wäre stolz gewesen, zu sehen, wie ich studierte, ins Berufsleben startete und versuche meine Träume zu verfolgen. Ich spürte sie an meiner Seite bei jeder Krise, die ich versuchte zu stemmen.

„Wenn man sich immer um sich selbst dreht, bewegt man sich im Kreis.“ Diese Worte habe ich mal bei Samuel Koch gelesen. Sie haben mich zum Nachdenken gebracht und sofort meine Augen zu Mutti schweifen lassen. Unterbewusst musste ich an sie denken. Ich verstehe bis heute nicht, wie ein Mensch einem so viel Leben beibringen kann, obwohl man ihn nie kennenlernen konnte. Ich erinnere mich, dass sie in den Erzählungen meiner Familie, von Freunden, ja selbst von mir fast fremden Leuten immer allgegenwärtig war. Ich war immer Mones kleines Mädchen. So bin ich aufgewachsen. Früher lächelte ich verschämt über die Aussage, weil ich nicht viel damit anfangen konnte. Irgendwann erfüllte es mich mit Stolz. Sicher war sie nicht vollkommen, doch ich bin dankbar dafür, dass mir eine Mutter gezeigt wurde, die mit Herzblut daran gearbeitet hat, etwas zu bewirken. Egal wie groß oder klein es auch war. Ich lernte von ihrem Engagement und ihrer Leidenschaft.

Das funktionierte, bis ich realisierte, dass ich plötzlich älter war, als sie jemals geworden ist. Ich konnte nicht mehr in ihrem Schatten wandeln, da der nicht mehr da war. Die Spur hörte auf. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, was sie in meinem Alter getan hat. Ich plumpste wie ein kleiner Kartoffelsack auf den Boden der Realität meines eigenen Lebens. Ich hatte keine andere Wahl, als meine eigenen Fußstapfen zu setzen. Also erweiterte ich den Kreis, den ich um uns beide gespannt hatte und ließ ihn wachsen.

Viele Künstler behaupten, das schwierigste sei das Selbstporträt. Es ist die Konfrontation mit sich selbst, seinen Stärken und Schwächen, die Angst einjagen. Oft fällt es leichter Kritik zu üben, vor allem wenn es um das eigene Leben und sich als Individuum geht. Doch bei aller Herausforderung muss man sich in Selbstliebe üben. Die Liebe, die ich für meine Mutter, meine Familie und meine Freunde gebe, die bin ich hundertprozentig auch selbst wert. Wenn ich mir selbst eingestehe, was ich Gutes tun kann, was ich leiste und wer ich wirklich bin, dann ist das die Beste Basis dafür, nicht nur um die eigene Achse zu drehen, sondern Bahnen um andere Menschen zu tanzen.

Wenn sie mich anblickt mit diesem abwesenden Blick auf dem alten Schwarz-Weiß-Foto, dann frage ich mich, ob ihr eigentlich selbst bewusst war, welch großartiger Mensch sie gewesen ist. Ich hoffe es sehr. Und wenn nicht, dann trage ich es mit mir und lebe das, was ihr nicht vergönnt war.