Da stand ich nun am Grenzübergang ins weißrussische Herz. Äußerst kritisch prüfte die streng schauende Dame am Schalter meinen Pass, blätterte darin, nahm die Lupe, blätterte wieder. Habt ihr schon mal mit voller Blase an der Passkontrolle gestanden? Bei all meiner Nervosität und Ehrfurcht vor diesen Uniformen um mich herum war das keineswegs ein Zuckerschlecken. Um mich abzulenken spielte ich Marc-Uwe Kling in meinem Kopf ab.
„I want you …“
„… to want me?“
„No. I want you …“
„… so bad?“
„No. I want …“
„… to break free?“ […]
„Come with me.“
„Aha, yeah.“*
Dann erbarmte sie sich endlich und drückte den Buzzer, damit ich durch die Tür ins Landesinnere gehen konnte. Fast. Zunächst mussten wir (damit meine ich mich und zwei Freundinnen, eine davon Weißrussin) erst einmal vom Minsker Flughafen wegkommen. Gesagt getan saßen wir nach Pippipause und Geldwechseln wie die Tauben auf der Stange in der letzten Reihe eines winzigen Busses, der uns durch eine wunderschöne grüne Birken- und Graslandschaft in die Hauptstadt fuhr. Diese Fahrt war ganz eindeutig ein Zeittunnel. Vorbei an kleinen Holzhäußchen mit niedlichen Schrebergärtchen und an Ömchen mit Kopftüchern, die an der Bushaltestelle warteten, war ich plötzlich wieder ein Kind. Bereits in diesem Moment hatte ich das Gefühl Dinge zu sehen, die ich von früher kannte, die man heute in Deutschland aber kaum noch anfindet. Aufgewachsen auf dem Dorf sehe ich die älteren Herrschaften mit ihren Kittelschürzen vor mir, wie sie vor den Häusern auf ihren Bänken saßen und den Autos hinterhersahen. Oder wie sie mit krummen Rücken ihre akkoraten Beete pflegten. Spätestens als ich an den Toren von Minsk das Emblem mit Hammer, Sichel und Ährenkranz erblickte, wusste ich, dass ich hier ein kleines Stück Geschichte erleben würde.
Weißrussischer Charme
Minsk ist auf dem ersten Blick eine unglaublich saubere und typisch europäische Stadt. Die Infrastruktur ist gut ausgebaut. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, um den Urlaub mit Kultur, Natur und Unterhaltung zu füllen. Doch es sind die kleinen Dinge, die mich faszinierten. Die Hausflure in den Wohnhäusern erinnern an längst vergangene Zeiten: alte Steinstufen, abgenutzte Holzgeländer und Fenster, die vermutlich schon seit Jahrzehnten zwischen den Backsteinen klemmen. Es hat Charme, diese Gebäude zu betreten, da man merkt, dass Modernität nicht notwendig ist, wenn die Dinge ihren Zweck noch erfüllen. So ist es auch mit den zahlreichen, an Stromleitungen angeschlossenen Busse. Ihr Innenleben hat gewiss schon Millionen Menschen durch die Jahre der Zeit gebracht. Besonders faszinierte mich das Metrofahren. Kartenautomaten? Fehlanzeige. Gezahlt wir am Schalter, wo sich die Verkäuferinnen hinter Glas verstecken. Für Einzelfahrten bekommt man kleine Plastikchips, die dann am Drehkreuz zum Bahnsteig eingeworfen werden. Doch eigentlich sind es keine Drehkreuze, denn der Durchgang ist offen. Kontrolliert wird durch einen Sicherheitsmann, der verantwortungsbewusst daneben steht und jeden einzelnen Fahrgast beobachtet. So merkt man schnell, dass es nicht immer den digitalen Fortschritt braucht, damit die Dinge funktionieren. Doch muss man sich auch bewusst machen, dass die Jobs – so antiquiert romantisch es auch wirkt – notwendig sind. Nicht umsonst stehen an den Straßenunterführungen so viele ältere Damen, um in winzigen Eimern ihre Blumen zu verkaufen. Bei vielen zählt jeder Rubel, damit der Alltag gelebt werden kann.
Stolze Frauen
Das Auftreten der Frauen, die durch die Straßen flanieren, ist eine Klasse für sich. Sehr lange habe ich nicht so viele Röcke, Pfennigabsätze und rot geschminkte Lippen gesehen. Jede einzelne von ihnen achtet auf sich und macht auf ihre Art etwas her. Vielleicht liegt es an einer Form von Selbstliebe, vielleicht aber auch an dem Bewusstsein, als Frau mit den weiblichen Reizen zu spielen. Sie wollen begehrt werden und zeigen das auch. Dass dieses Prinzip aufgeht, merkt man spätestens an den Dating-Paaren. Die sind nämlich unschwer an den Blumen in den manikürten Händen der Frau zu erkennen. Natürlich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie auf diese beinah kitschige und althergebrachte Art und Weise umworben wird, die alle Welt sehen soll.
Ein Land der Kontraste
Es ist die Eleganz auf der einen und der knallharte Alltag auf der anderen Seite, der in Minsk besondere Kontraste hervorruft. Nicht zuletzt spiegelt sich das in der bunten Architekturvielfalt wider. Repräsentative Gebäude strotzen vor Anmut. Zum Teil kroteske Plattenbauromantik hinterlässt ein bedrückendes Gefühl. Am Ende ist es aber die Mischung aus allem, die diesen Ort authentisch macht. Menschen und Gebäude wirken auf den ersten Moment zusammengewürfelt. Alles miteinander vereint ergibt schließlich das eine Bild. Für mich als Touristen gab es kein Wegschauen oder Hinsehen, sondern nur ein Mittendrinsein.
Genau das taten wir auch, als wir mit dem Zug von Minsk nach Brest an die polnische Grenze des Landes fuhren. Was soll ich sagen? Es war die beste Bahnfahrt meines Lebens. Ich habe keine Ahnung wie viele Jahre dieser Zug schon auf dem Buckel hatte, doch es dürften einige sein. Ich fühlte mich wie in einem dieser alten Filme, wo die Koffer beim Einsteigen in den Wagon hinauf gereicht werden, da man mit ihnen zusammen die Stufen nicht erklimmen kann. Drinnen holte mich erneut meine Kindheit ein. Diesmal stand ich in der alten Garage meines Großvaters, wo es stets und ständig nach rostigem Metall und altem Schmieröl roch. „Zuhause“, schoss es mir sofort durch den Kopf. Ich hatte von diesen Zügen aus Erzählungen in meiner Familie gehört: kleine, offene Abteile, in denen man sitzen oder schlafen konnte. Ich genoss das sanfte Tackern der Schienen, trank Tee aus uralten Gläsern und verfrachtete mich irgendwann auf eine der ausklappbaren Liegen. Es war der Inbegriff vom Reisen. Für fast fünf Stunden lebten wir in diesem Wagon und waren einfach nur im Hier und Jetzt. Bis wir schließlich zum Abendessen am voll gedeckten Tisch einer echt weißrussischen Familie saßen.
Heringssalat und Vodka
Meine weißrussische Freundin hatte den Besuch ihrer Familie fest in unser Abenteuer eingeplant. Doch es war nicht einfach nur ein Termin. Dieses Wort trifft nicht ansatzweise das, was dieser Abend bei mit hinterlassen hat. So viel Herzlichkeit, Fröhlichkeit und Spaß sprudelten in diesen Stunden über mich, dass ich jederzeit wieder auf dieser Türschwelle stehen könnte.** Als Fremde in die Wohnung hinein gegangen, war es einen Moment später wieder das „Zuhause“, das mich erfüllte. Kaum Platz genommen wurden wir von der Mama aufgefordert, mit dem Essen zu beginnen. Sie selbst wuselte – und das übrigens den ganzen Abend – ununterbrochen zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her. Brachte immer mehr Essen, tauschte schmutzige Teller gegen saubere aus. Sie war ein einziger, fürsorglicher Wirbelwind. Von neun Uhr abends bis morgens um drei, waren weder mein Teller noch mein Glas jemals leer. Es war wie im Schlaraffen-Rausch, der vom Vodka ordentlich befeuert wurde. Diese Abende sind in Weißrussland keineswegs Gang und Gebe. Sie sind die Frucht einer unerschütterlichen Gastfreundschaft. Gemeinsam aßen und sangen wir. Gemeinsam tranken wir auf den Weltfrieden, die Liebe, einen guten Mann und die Gesundheit. Gemeinsam lebten wir das, was uns verbindet und erklärten uns, was der jeweils andere nicht kennt. Plötzlich war es auch völlig egal, dass mein russischer Wortschatz nicht mehr als fünf Worte umfasst, die ich wirklich aussprechen kann. Völkerverständigung kennt nämlich keine Sprachbarrieren, sondern nur Menschlichkeit. Und das waren wir ganz einfach: Menschen, wie du und ich, die für ein paar Stunden das Leben in vollen, genussreichen Zügen geliebt haben.
*Marc-Uwe Kling: Die Känguru-Offenbarung
**Kleine Warnung an deine Familie, Nastja 🙂
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